Aber es gibt doch Regeln! Oder etwa nicht?

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Regeln geben Klarheit und Orientierung

Regeln werden vereinbart, um Menschen Klarheit und Orientierung für das Miteinander zu geben. Das gilt für Teams, für Familien, Partnerschaften und alle Formen von Gemeinschaft. Was aber, wenn es einen Konflikt gibt? Ist es gleich im ersten Schritt sinnvoll, mit Blick auf das eigene Bedürfnis nach Verlässlichkeit die Einhaltung von Regeln einzufordern? Diese Frage taucht in der Begleitung von Menschen im Coaching, in meinen Seminaren und in meinen Gruppen immer wieder auf.
Gehen wir gemeinsam ein paar Beispiele aus der Praxis durch?

Mitarbeiter Mertes kommt schon wieder zu spät

Die Führungskraft beobachtet, dass einer der Mitarbeitenden in diesem Monat fünfmal bis zu 30 Minuten nach der vereinbarten Kernzeit im Büro ankommt.
In der Grundausbildung haben wir verschiedene Varianten durchgespielt und festgestellt: Beruft sich die Führungskraft sofort auf Bedürfnisse wie Verlässlichkeit oder die Einhaltung von Regeln, kommt es zu keiner wirklichen Verbindung zwischen der Führungskraft und dem angesprochenen Mitarbeiter:
Im Rollenspiel neigte der Mitarbeiter dann stark dazu, sich zu rechtfertigen.

Verstehen liefert wichtige Informationen

Ganz anders jedoch, wenn die Führungskraft sich zunächst mit ihrem Bedürfnis, verstehen zu wollen, verbindet und erst einmal hört, was denn eigentlich los war. Die Informationen, die die Führungskraft nun erhält, bieten eine solide Basis, auf der die Kommunikation weitergeführt werden kann.
Stellt sich jetzt zum Beispiel heraus, dass der Mitarbeiter sich in einer persönlich schwierigen Lage befindet, kann die Führungskraft gemeinsam mit dem Mitarbeiter nach Lösungen suchen und ihm ggfs. Unterstützung anbieten.
Gibt es keinen nachvollziehbaren Grund, ist jetzt die Zeit, die Bedürfnisse des Teams und die eigenen Bedürfnisse z. B. nach Verlässlichkeit und Gerechtigkeit mit Entschlossenheit in die Überlegungen einzubeziehen.
Es geht also nicht darum, die eigenen Bedürfnisse nicht ernst zu nehmen und „nett“ zu sein, sondern darum, sozusagen schrittweise „beziehungsschonend“ vorzugehen.

Der achtzehnjährige Finn hat die Küche nicht wie vereinbart aufgeräumt

Wer kennt das nicht. Da kommt man schon geschafft nach Hause – und dann das! Augenblicklich startet das Kopfkino: typisch! das war ja klar! Man hat seine früheren Erfahrungen und die Anforderungen der eigenen Eltern in der Jugend als eigene Altlast im Gepäck. Gespräche mit Freundinnen/Freunden, die mit ihren Kindern in ähnlichen Situationen sind, nähren u. U. Feindbilder und tragen zur Verhärtung der Fronten bei. Rollenspiele haben gezeigt, dass es für die Verbindung, die wichtigste Voraussetzung für Gewaltfreie/Wertschätzende Kommunikation, wichtig ist, dieses Denken bewusst wahrzunehmen und nicht „auf den Zug aufzuspringen“.

Meckern stellt die Ohren auf Durchzug

Wie wäre es mit: „Mann, bin ich geschafft. Ich hab mich sehr auf meinen Feierabend-Tee in einer sauberen Küche gefreut. Was ist dazwischengekommen?“ Meckern hingegen ist immer Kommunikation von oben nach unten. Die Augenhöhe geht sofort verloren. Das Gegenüber stellt die Ohren auf Durchzug oder wird bockig.
Dann wäre da noch die Frage, ob ich wirklich daran interessiert bin, mit einem langsam erwachsen werdenden Menschen neue Regelungen zu finden? Vereinbarungen, die die Bedürfnisse beider Parteien im Blick haben. Oder geht es mir eventuell doch nur darum, dass alles läuft wie immer und ich meine Vorstellungen durchsetze?

Die Freundin sagt einen gemeinsamen Termin kurzfristig ab

Auch in freundschaftlichen Beziehungen gibt es „ungeschriebene Gesetze“.
Stellen wir uns vor, die Freundin sagt zwei Stunden vor der Verabredung ab.
„Sowas kann man einfach nicht machen!“ Dieser Gedanke drängt sich in solchen Situationen schnell auf.
Aber ist das wirklich wahr? Was passiert, wenn ich auf der Benimm-Regel beharre, dass man eine Verabredung nicht so kurzfristig absagt? Das führt eventuell dazu, dass jemand Zeit mit mir verbringt, der in diesem Moment gar keine Lust dazu hat oder viel zu erschöpft ist, ganz bei mir zu sein.
Es führt auch dazu, dass ich mich in einer ähnlichen Situation nicht traue, zu mir zu stehen.

Ehrlichkeit vertieft die Beziehung

Ein offener Austausch über die aktuellen Gefühle und Bedürfnisse auf beiden Seiten ist in dieser Situation eine echte Chance, die Beziehung zu vertiefen. Zu diesem Austausch gehört unter Umständen natürlich auch die Bitte an die Freundin, meinen Wunsch nach Kontakt und Verbindung ernst zu nehmen, und die eigene Planung bei der nächsten Verabredung so zu gestalten, dass am Abend genügend Energie für die getroffene Verabredung bleibt.

Fazit

Das  schnelle Beharren auf die verlässliche Einhaltung von Regeln kann uns im Denken von Kategorien „richtig und falsch“ gefangen halten. Das nährt unter Umständen die Sicht, dass der andere schuldig ist und sein Verhalten sanktioniert werden muss.
Erst wenn wir uns von dem Gedanken frei machen, den anderen erziehen zu müssen, kann die Verbindung entstehen, die für gegenseitiges Verstehen und gemeinsames Aushandeln notwendig ist.
Bildlich gesprochen sitzt der Wunsch nach Verlässlichkeit gleichberechtigt mit allen anderen gerade lebendigen Bedürfnissen am Verhandlungstisch.

4 Kommentare zu Aber es gibt doch Regeln! Oder etwa nicht?

  • Liebe Frau Waltrup,
    das Oberthema Ihres Newsletters hat mich „voll erwischt“: aus der gerfühlten Ohnmacht heraus empört auf das Einhalten der Regeln zu bestehen, kommt nicht gerade gewaltfrei daher. Dabei ist es genau die Ohnmacht, die diese Empörung hervorruft und in diesen Momenten wünsche ich mir oft, dass mein Gegenüber auch gewaltfrei agiert und fragt, warum ich denn so empört agiere … Tja, wenn die anderen gewaltfreier wären, könnte ich das auch … 😉
    Ich glaube, Sie haben hier eine gute Idee: sich auf sich besinnen, Umwelt und Frühling bewusst genießen und „zu sich zu kommen“, um dann in der Lage zu sein, das Gefühl von Ohnmacht abzuschütteln = das, was passiert, nicht auf sich zu beziehen und sich nicht persönlich angegriffen zu fühlen. Danke für diesen Beitrag und einen wunderschönen Mai. Viele Grüße,
    Marion Gerbitz

    • Liebe Marion Gerbitz,
      erstmal freue ich mich total, von Ihnen zu hören. Lange her, dass wir uns begegnet sind. Empathie wäre zweifelsfrei die beste Reaktion auf Empörung. In den Fällen, in denen mir das bisher gelungen ist, hat es sehr deeskalierend gewirkt. Aber es ist nicht immer leicht.
      HG Beate Waltrup

  • Hallo Frau Waltrup,
    Ich lese Ihre Beispiele, sage mir so ist es richtig, gewaltfreie wertschätzende Kommunikation, Empathie, finde ich wirklich sehr gut.
    […] Hilft uns die gewaltfreie Kommunikation? Ich denke vielleicht ein bisschen. Aber ich kann sie leider nicht so einfach und schnell den schnellen Zeitabläufen und Situationen entsprechend anwenden. Meine Unvollkommenheit und die der Mitmenschen stehen dem leider dagegen.
    Mit freundlichen Grüßen Rolf Hackländer

    • Lieber Rolf Hackländer,
      Ihre (hier nur in Teilen veröffentlichten) Schilderungen machen mich betroffen. Mich persönlich hat es sehr weitergebracht, mir einen Kreis von Gleichgesinnten zu suchen. Das gemeinsame Üben, Scheitern und Erfolge feiern war und ist eine enorme Unterstützung und macht mir immer wieder Mut.
      Ich wünsche Ihnen alles Gute
      Beate Waltrup

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